Studienergebnisse
Krisenstäbe und Pandemiepläne
Die Berücksichtigung der Bedürfnisse schwerkranker und sterbender Menschen sowie ihrer Angehörigen im Pandemiemanagement der Krisenstäbe auf Bundes-, Landes-, Kommunalebene und lokaler Gesundheitseinrichtungen
Ziel der Studie
Beschreibung der Zusammensetzung, Organisation, Befugnisse und Weisungen von Pandemie-Krisenstäben auf Bundes-, Landes-, Kommunalebene und lokaler Gesundheitseinrichtungen im Hinblick auf die Berücksichtigung schwerkranker und sterbender Menschen sowie ihrer Angehörigen in der SARS-CoV-2 Pandemie
Zielgruppe/Studienteilnehmer
Vertreterinnen und Vertreter aus Pandemiekrisenstäben oder Personen in beratender Funktion
Methodik
Semi-strukturierte Experten-Interviews (telefonisch, Video), audioaufgezeichnet und wörtlich transkribiert; Auswertung und Analyse mittels eines kombinierten deduktiven und induktiven Vorgehens qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring (2014)
Die wichtigsten Kernaussagen:
- Die Bundesregierung setzt gesetzliche Rahmenbedingungen, deren Ausgestaltung erfolgt auf Länder-, Kreis- und Stadtebene. In der Mikroebene tragen die Leitungen die Verantwortung für die eigene(n) Einrichtung(en)/Dienst(e).
- Neben Krisenstäben nehmen Gesundheitsämter eine tragende und weisende Rolle im Pandemiegeschehen ein und bedürfen einer (landesübergreifenden) Koordinierung.
- Hospiz- und Palliativversorgung kann nur dann hinreichend in Pandemiesituationen bereitgestellt werden, wenn die Versorgung schwerkranker, sterbender Menschen und deren Angehörige ausreichend Berücksichtigung in den Krisenstäben aller Ebenen finden.
- Kommunikationsinfrastruktur, Netzwerke und Implementierung von Fachwissen der Palliativmedizin bei der Erstellung von Pandemieplänen und der Zusammensetzung und Einrichtung von Krisenstäben sind erforderlich, um die Berücksichtigung der Bedarfe schwerkranker und sterbender Menschen sowie deren Angehöriger zu verbessern.
Ergebnisse
Es wurden 42 Personen befragt, die im Zeitraum von Oktober 2020 bis Februar 2021 exemplarisch zu den Tätigkeiten von 20 Krisenstäben der Makro- und Mesoebene (Bund, Länder, Kommunen), sowie 23 Krisenstäben der Träger und Gesundheitseinrichtungen (Mikroebene) aus 14 Bundesländern Auskunft gaben. Die Bedürfnisse von Menschen am Lebensende wurden in 20 Krisenstäben berücksichtigt. In 9 weiteren wurden die Bedürfnisse diskutiert, aber keine Maßnahmen ergriffen. In 14 Krisenstäben fand keine Berücksichtigung statt. In Deutschland wird das Pandemiemanagement von einem föderalen politisch-administrativen System geleistet, das sich durch seine dezentrale Struktur auszeichnet (Franzke, 2020). Die Pandemiebewältigung auf Makroebene liegt in den Händen der Bundesregierung, welche gemeinsam mit den Ressorts und beratenden Fachinstitutionen (RKI, BfArM, PEI und BZgA) bundesweit geltende Beschlüsse trifft. Der gemeinsame Krisenstab des BMI und BMG befasst sich mit der praktischen Umsetzung der Beschlüsse mit dem primären Ziel Infektionsketten zu unterbinden und sorgt für die kurzfristige Beschaffung medizinischer Schutzausrüstung. Das BMG darf Empfehlungen und Rechtsverordnungen von nationaler Tragweite herausgeben, doch bleibt den Bundesländern ihre landeseigene Verwaltung vorbehalten (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 2020). Die Krisenstäbe der Innenministerien tragen die politische Verantwortung für die Umsetzung der politischen Beschlüsse im eigenen Bundesland und beschließen Landesverordnungen. Aufgrund regional stark variierender Infektionszahlen stehen v.a. Landkreise und kreisfreie Städte im Mittelpunkt der Krisenbewältigung. Durch Hauptverwaltungsbeamte wurden Katastrophenstabsstrukturen aktiviert und neue kommunale Krisenstäbe initiiert. Den Krisenstäben auf Mikroebene ist die praktische Ausgestaltung der Maßnahmen in ihren Einrichtungen und Diensten entsprechend den gesetzlichen, politischen und kommunalen Rahmenvorgaben in Eigenverantwortung vorbehalten. Die Krisenstäbe waren, als zentrale Gremien des Pandemiemanagements, in allen Ebenen vor allem in der 1. Phase mit einer Vielzahl von Themen befasst, insbesondere mit strukturellen, materialbezogenen und personellen Herausforderungen v.a. im Bereich der Bereitstellung ausreichender intensivmedizinischer Versorgungskapazitäten, die zu Beginn aktiv angegangen wurden. „Das größte Thema im März war wirklich: Wie sorgen wir dafür, dass unsere Mitarbeiter geschützt sind? Wie sorgen wir dafür, dass die Bewohner geschützt sind? […] Da war Palliative Care noch gar kein Thema“ (ID B, 16).
Als Weisungen der Makroebene mit Auswirkungen auf die Hospiz- und Palliativversorgung sind die Besuchseinschränkungen in der 1. Pandemiephase (ab der Ausrufung der Pandemie bis zu Beginn der ersten Lockerungen) für Einrichtungen zu benennen, wenngleich die Vorschrift trotz besonderer Schutzmaßnahmen für vulnerable Gruppen keine vollständige Isolation der Betroffenen vorsah. Während in der 2. Phase (Sommermonate 2020 mit Lockerungen) wiederholter Besuch durch eine festgelegte Person ermöglicht wurde, war in Phase 3 (Herbstmonate 2020 mit erneutem Anstieg der Fallzahlen) eine Teststrategie (pflegebedürftige Personen, Pflegepersonal und Besucher) angewiesen worden. Die auf die Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen bezogenen Maßnahmen der Mesoebene, beinhalteten vor allem die Ausgestaltung der Hygienekonzepte/Pandemiepläne hinsichtlich Angehörigenbesuche, den Ausschluss der Patientinnen und Patienten am Lebensende von den Besucherverboten und -einschränkungen, und die Vorbereitung auf mögliche Ausbruchsszenarien. Die Aktivitäten der Krisenstäbe auf Mikroebene bezogen sich vorwiegend auf Maßnahmen, die soziales Miteinander, Abschiednahme und Entlastung, auch der Mitarbeitenden, ermöglichen sollten (z.B. Begegnungsmöglichkeiten/Konzepte für Angehörigenbesuche in Sterbephase/im Freien, Einzelfallentscheidungen, alternative Kommunikationswege wie Telefon, Tablet, Balkon, Fenster, sowie Angebote von Supervision und virtuellem Austausch zur Minderung der psychischen Belastung Mitarbeitender). Die Interessen schwerkranker und sterbender Menschen sowie ihrer Angehörigen in den Krisenstäben wurden primär durch die Expertise der involvierten Krisenstabsmitglieder (nicht) vertreten. Insbesondere die Träger übernahmen die Aufgabe Rückmeldung an Gesundheitsämter und politische Stellen zu geben, um so die Patientenversorgung und Mitarbeitersituation zu verbessern.
Schlussfolgerungen
Die Krisenstäbe unterscheiden sich bzgl. Befugnissen und Geltungsbereichen. Auf Makroebene werden gesetzliche Rahmenbedingungen gesetzt, die Ausgestaltung erfolgt auf Länder- und Kommunalebene. In der Mikroebene tragen die Führungskräfte die Verantwortung für die eigene(n) Einrichtung(en)/Dienst(e). Fehlende verantwortliche Ansprechpersonen für Hospiz- und Palliativbedarfe auf allen Ebenen erschwerten die Berücksichtigung schwerkranker und sterbender Menschen sowie deren Angehöriger im Pandemiemanagement.
Verantwortliche
UK Erlangen | Prof. Dr. C. Ostgathe, Dr. Dr. M. Heckel, I. Klinger, S. Shahda
UK Rostock | Prof. Dr. C. Junghanß, Dr. U. Kriesen, S. Stellmacher-Kaiser, C. Schneider
Ethikvotum
Universitätsklinikum Erlangen Nr. 397_20B
Berücksichtigung palliativmedizinischer Aspekte in Pandemieplänen auf Bundes-, Landes-, Stadt- und
Kreisebene und lokaler Gesundheitseinrichtungen Analyse der Pandemiepläne
Ziel der Studie
i) Exemplarische Beschreibung von Pandemie-Krisenstäben auf Bundes-, Landes-, Stadt- und Kreisebene und ii) Sammlung und Auswertung von Pandemieplänen.
Zielgruppe/Studienteilnehmer
Pandemiepläne auf Makro-, Meso- und Mikroebene
Methodik
Pandemiepläne der verschiedenen Organisationsebenen wurden per Internet identifiziert und extrahiert. Gleichzeitig wurden per Mail bzw. telefonisch alle Städte >100.000 Einwohnern (n=81) und die je 2 bevölkerungsreichsten Landkreisen pro Bundesland kontaktiert. Es erfolgte die Auswertung aller vorliegenden Pandemiepläne in Bezug auf von Inhalten, Struktur, Verfassern und Hinweise auf den Umgang mit Schwerstkranken und Sterbenden im Rahmen von palliativmedizinischer Betreuung.
Die wichtigsten Kernaussagen:
- Pandemiepläne sind nicht einheitlich aufgebaut.
- Pandemiepläne sind für die Öffentlichkeit und die Wissenschaft nicht leicht zugänglich.
- Autorenschaften, Zuständigkeiten und Fachexpertisen sollten klar erkennbar sein.
- Palliativmedizinsicher Bedürfnisse von schwer kranken und sterbenden Patienten und deren Angehörigen findet keine Berücksichtigung in den analysierten Pandemieplänen.
- Pandemiepläne bedürfen einer Überarbeitung in Bezug auf Aufbau, Inhalt und Verfahrensweisen zu palliativmedizinischen Fragestellungen.
Ergebnisse
Der Zugriff auf Pandemiepläne unterhalb der Makroebene war limitiert. In der ersten Kontaktrunde wurde 107 Emails versendet. Die Rücklaufquote lag mit 14 Antworten bei 13 %, wobei in der ersten Befragungsrunde lediglich drei Pandemiepläne akquiriert werden konnten. Weitere Rückmeldungen beinhalteten Absagen beziehungsweise Eingangsbestätigungen oder Weiterleitungsnachrichten. In einer zweiten Umfragerunde, fünf Wochen nach der Erstumfrage, wurden nach Versand von 103 Emails zwei weitere Pandemiepläne übermittelt (Rücklaufquote 5 %). Die Pandemiepläne für alle 16 Bundesländer Deutschlands und den der nationalen Pandemieplan waren offen zugänglich auf der Homepage des Robert-Koch-Institutes verfügbar. Die Pandemiepläne der anderen Ebenen standen hingegen aufgrund von fehlenden Zugangsberechtigungen bzw. aufgrund der geringen Rücklaufquote nur in begrenzter Anzahl für Analysen zur Verfügung. Einige Städte erklärten zudem, keinen eigenen Pandemieplan erarbeitet zu haben. Diese Städte orientieren sich in der Regel am nationalen Pandemieplan bzw. am Pandemieplan des jeweiligen Bundeslandes. Eine genauere Analyse des prozentualen Vorhandenseins von Pandemieplänen ist aufgrund der limitierten Rückmeldungen nicht möglich.
In die Auswertung wurden ein nationaler Pandemieplan, bestehend aus zwei Teilen sowie 16 Pandemiepläne aus den einzelnen Bundesländern aufgenommen. Des Weiteren wurden 12 städtische Pandemiepläne, neun Pandemiepläne aus Landkreisen sowie 19 Pläne aus verschiedenen Einrichtungen (u.a. öffentliche Einrichtungen) ausgewertet. Eine eindeutige Autorenschaft, mit Namen und Funktion der Verfasser, war insgesamt nur einmal (Bundesland Nordrhein-Westfalen) angegeben. Eine autorisierende Institution wurde in 83 % der städtischen, 67 % der Landkreispandemiepläne sowie 44 % der sonstigen Institutionen genannt. In keinem Fall wurde ein Palliativmediziner oder eine palliativmedizinische Institution als (Co-)Autor genannt.
Die Inhaltsverzeichnisse der Pandemiepläne waren in Struktur und Themengebieten heterogen. Sie enthielten keine eigenständigen palliativmedizinischen Abschnitte. In der Folge wurde ein inhaltliches Screening nach relevanten Inhalten in Bezug auf die Palliativmedizin durchgeführt (u.a. Suche nach Schlüsselwörtern). Keiner der untersuchten Pandemiepläne enthielt das Wort „palliativ“. Weitere Schlagworte wie „schwer kranke und sterbende Menschen“, „SAPV“, „Sterben“, „Überlastung“ und andere relevante palliativmedizinische Begriffe, fanden allein oder auch in Kombination keine Erwähnung. Für den Umgang mit Verstorbenen gab es insbesondere auf der Makroebene klare, auf das Infektionsschutzgesetz abzielende, Vorgaben. Der Bezug zur Trauer, Abschiednahme und Angehörigenbetreuung wurde nicht hergestellt.
Schlussfolgerung
Der Zugang zu den Pandemieplänen ist unterhalb der Makroebene schwierig. Ein leichterer öffentlicher Zugang erscheint sinnvoll. Die untersuchten Pandemieplänen aus unterschiedlichen organisatorischen Ebenen zeigen einen sehr heterogenen Aufbau, eine Homogenisierung ist hier in vielen Bereichen sinnvoll. Palliativmedizinische Expertise scheint beim Erstellen der Pandemiepläne nicht hinzugezogen worden zu sein. Verfahrensweisen für palliativmedizinisch erkrankte Patienten, Angehörige sowie Patienten, die durch Infektion mit dem Sterben konfrontiert sind, sind in den analysierten Pandemieplänen nicht dargestellt. Zukünftige Pandemiepläne sollten diese Defizite adressieren.
Verantwortliche
UK Rostock | Prof. Dr. C. Junghanß, Dr. U. Kriesen, S. Stellmacher-Kaiser, C. Schneider
Ethikvotum
A2020-0226 (Universitätsmedizin Rostock)